Zum Clavierlied

Eine wichtige, jedoch weitgehend unbekannte Repertoire-Gruppe der Gattung "Deutsches Lied des 18. Jahrhunderts" bildet das Clavierlied. Damit gemeint ist ein Lied mit Begleitung eines Tasteninstruments, in dessen Text das Clavier entweder erwähnt wird, oder aber – fast immer – für den Inhalt des Gedichts von Bedeutung ist. Mit Clavier – manchmal auch Klavier – ist stets das Clavichord gemeint, das Tasteninstrument, das während der Zeit der Empfindsamkeit wegen seiner starken Ausdrucksmöglichkeiten zum Lieblingsinstrument sowohl von Kennern als auch von Liebhabern wurde.

Um die Eigenschaften dieses leisen Instruments in empfindsamer und für diese Zeit typischer Weise zu schildern, benutzen die Dichter in den über 40 noch vorhandenen Liedtexten Ausdrücke wie sanft, zärtlich, silbertönend, seufzend, schmeichelnd, sprechend, sanfttröstend oder rührend. Das Clavichord wird als Begleiter in der Einsamkeit idealisiert, als Halt für trostsuchende Seelen empfohlen, oft sogar direkt angesprochen. Die Gedichte sind ein Beweis für die Beliebtheit des Clavichords im späten 18. Jahrhundert und zeigen deutlich, welche Eigenschaften des Instruments am meisten geschätzt wurden.

Die übliche Haupthandlung dieser Clavichord-Poesie stellt eine leidende Person dar, die ein sensibles, mitleidsvolles Gegenüber (nämlich das Clavier) sucht, das als Vermittler dient oder sogar eine Genesung fördert. Oft wird dem Clavichord gedankt. Häufig bittet die melancholische Seele das Clavier um Linderung der Schmerzen, oder ein Liebender sucht Trost im Zwiegespräch mit dem Clavier.

Die sehr private Beschaffenheit des Seelenschmerzes und die ruhige Ästhetik des Clavichords bilden eine nahezu perfekte Paarung, die verborgenes Bekenntnis und intimes Vertrauen erlauben. Aus dieser poetischen Welt erhebt sich das Clavichord und nimmt die Eigenschaft einer atmenden, fühlenden, sprechenden und hörenden Gestalt an. Der Leidende darf ihm seinen Kummer anvertrauen.

Für die vorliegende moderne Ausgabe von 17 Clavierliedern wurden Lieder ausgewählt, deren Texte oder Musik von Frauen stammen. Da in Deutschland zur Zeit der Entstehung dieses Repertoires die "Frauenzimmer" beim häuslichen Musizieren stark vertreten waren, überrascht es nicht zu erkennen, dass gewisse junge Damen neben dem Singen und Clavierspielen auch dichteten und komponierten und dass ihre Werke sogar veröffentlicht wurden. Solche Clavierlieder (wie das deutsche Kunstlied der Zeit überhaupt), die zumeist einfach gesetzt sind, waren bei musizierenden Dilettantinnen sehr beliebt. Die Ausübung einer dichterischen und/oder musikalischen Beschäftigung diente nicht nur dem Vergnügen: Sie sollte auch das Streben nach tugendhafter Lebensführung fördern – eine Bemühung, die damals von einer jungen Frau erwartet wurde.

Heute sind die Dichter und Dichterinnen dieser Gruppe von Clavierliedern kaum noch bekannt, obwohl sie zu Lebzeiten bemerkenswerte Anerkennung genossen. Vor allem wurde Johann Timotheus Hermes mit seinem zwischen 1769 und 1773 entstandenen Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (daraus unser Lied Nr. 4 Sey mir gegrüsst mein schmeichelndes Klavier) viel gelesen und diskutiert. Unter den Komponisten und Komponistinnen sind einige Namen geläufig, z.B. Johann Philipp Kirnberger, Johann Friedrich Reichhardt oder Maria Theresia von Paradis. Auf nähere Angaben zu diesen Persönlichkeiten wurde für diese Edition bewusst verzichtet. Sie sind in den gängigen Lexika (und im Internet) aufgeführt.

Bei den ausgewählten Liedern handelt es sich vorwiegend um schlichte, strophische Kompositionen, in denen die Gesangsstimme gleich oder fast gleich ist wie die rechte Hand der Clavierbegleitung, eine für das 18. Jahrhundert bei Liedvertonungen nicht unübliche Erscheinung (Nr. 1, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 14, 16, 17 z.T.). Singstimme und Diskant des Claviers vermitteln damit denselben Ausdruck und dieselben Gefühle.

Es gibt mehrere Lieder, die Vor-, Zwischen- oder Nachspiele für das Clavichord einschliessen (Nr. 2, 4, 5, 8, 10, 13, 17) oder für die eine eigenständige Clavierbegleitung existiert (Nr. 5, 13, 17). Diese Vertonungen sind in der Regel reifere Kompositionen, die dem Clavier mehr Bedeutung verleihen und ihm somit die Möglichkeit geben, sich besser in Szene zu setzen – dies nicht nur durch anpruchsvollere Spieltechnik, sondern auch auf einer hörbar gefühlsmässigen Ebene.

Die ideale Besetzung dieser Lieder ist natürlich eine Frauenstimme mit Begleitung eines Clavichords. Dennoch ist zu hoffen, dass heutige Musiker, die keinen Zugang zu einem "sanften Clavier" haben, dieses Repertoire ebenfalls entdecken werden. Unter den anderen alten Tasteninstrumenten käme ein Tafelklavier oder ein Hammerflügel in Frage. Schliesslich wurden auch diese Instrumente damals schon benutzt; sie ermöglichen durch Anschlagnuancen – im Gegensatz zum Cembalo – eine deutlich umfangreichere Dynamikpalette. Die Verwendung eines gezupften Instruments wie dem Cembalo oder auch einer Harfe oder Gitarre, obwohl keine Claviere, wäre zumindest für einige Lieder dieser Edition denkbar. Einige Liedsammlungen des 18. Jahrhunderts sehen diese gezupften Saiteninstrumente für Liedbegleitungen vor (siehe den Titel der Liedsammlung zum Lied Nr. 5). Das moderne Klavier, obgleich nicht "sanft" oder "zärtlich", ist heute als Hausinstrument das, was früher das Clavichord war, und ist deshalb als Begleitinstrument nicht auszuschliessen. Aufgrund der Einfachheit der Lieder ist auch die Selbstbegleitung möglich: Die Sängerin begleitet sich selbst. Dies entspricht einer verbreiteten Aufführungspraxis der Zeit und verstärkt das intime Zwiegespräch zwischen Gefühl (Poesie) und Musik (Clavier).

Sally Fortino

Basel, August 2011

An dieser Stelle möchte ich allen Bibliotheken für die freundliche Genehmigung danken, Werke aus ihren Beständen für die vorliegende Ausgabe zu veröffentlichen. Die Details zu den einzelnen Quellen befinden sich bei jedem Lied.

Eine ausführliche Darstellung der hier skizzierten Gedanken findet sich im Tagungsband zum Symposium im Rahmen der 26. Tage alter Musik in Herne 2001 (Sally Fortino, "Gefährtin meiner Einsamkeit" - Sehnsucht nach dem Clavichord; in: "Fundament aller Clavirten Instrumenten" - Das Clavichord, hrg. von Christian Ahrens und Gregor Klinke, München-Salzburg: Musikverlag Katzbichler 2003).